1940 wird am AGD "Der Kaufmann von Venedig" aufgeführt - "dieses Stück (so schreibt ein "alter Arndter" in den Dahlemer Blättern) mit der - heute wie damals - als antisemitisch deutbaren Rolle des Titelhelden Shylock... Das Stück ist zwischen 1933 und 1944 von zahlreichen deutschen Bühnen unzählige Male aufgeführt worden, und die schlimme Spur der Anheizung antisemitischer Gefühle und antisemitischer Propaganda, der es in den Rezensionen der staatlichen gelenkten Presse dienstbar gemacht wurde, ist noch heute in den theaterwissenschaftlichen Archiven nachzulesen (mehr zur NS-Propaganda? > hier klicken!). ... Entscheidend nun war, dass in jener Schüleraufführung ... von diesem schrecklichen Missbrauch der Shylock-Rolle keine Spur zu entdecken war. Die beiden Abende, an denen ich als 15jähriger den damals 18jährigen Siegfried Wischnewski (aus dem ein populärer Bühnen- und Fernsehstar werden sollte...[1989 gestorben]) den Shylock spielen sah, haben sich mir unauslöschlich eingeprägt. Wie dieser Frühbegabte agierte, die Gesten, die Gänge, die aufrechte Haltung, das klangvolle sonore Organ, diese überlegene Ruhe, mit der er die Rabulistik des Textes auseinanderpflückte, die unaufgeregte, kalte Wut des Betrogenen und der erschütternde, humane Appell in jenen berühmten, Lessing vorwegnehmenden Sätzen, in denen die Komödie das Tragische streift: 'Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt als ein Christ?' - das alles war in jeder Phase achtunggebietend dargestellt... Mit dieser Auffassung der Rolle des Shylock standen der junge Protagonist Siegfried Wischnewski und sein Regisseur Gerhard Udke wohl einzigartig in der von antisemitischen Tendenzen - ob sie nun oktroyiert waren oder freiwillig befolgt wurden - verunstalteten Theaterwelt Deutschlands da."
  Bleibt allerdings anzumerken, dass das Stück wohl auch am AGD nicht nur einmal aufgeführt wurde: wenn man den Dahlemer Blättern glauben darf, dann war es schon 1939 durch die Klasse 8s aufgeführt worden - mit welchem Tenor allerdings kann der leider nicht vollständigen Serie der Dahlemer Blätter nicht mehr entnommen werden (die in einem Inszenierungsbericht erwähnte Kritik in einer "Aprilnummer" der Dahlemer Blätter fehlt). Weiter wird von "Alten Arndtern" gesagt, dass Regisseur Udke "immer als einer galt, der der Partei sehr zugeneigt sein konnte". Ferner war bei einer Aufführung "auch Gustav Gründgens (der Theatermann des Naziregimes) zugegen, und er hat nachher dem Wischnewski gesagt: 'Sie sollten Schauspieler werden!' Der wurde das auch, sogar ohne Ausbildung, als er dann aus dem Krieg wiederkam!".
  Ein kleines, aber scharfes Schlaglicht auf das Amalgam von "Patriotismus" und Antisemitismus in jener zwielichtigen Zeit liefert auch die Affäre "Louis Poncet": François Poncet, der französische Botschafter, hatte 1933 bei Richter angefragt, ob nicht sein Sohn Louis Heimschüler im AGD werden könne. Dieser hatte mit Blick auf die "nationale Erregung der Schülerschaft" abgeraten. Poncet bestand jedoch auf einem Versuch. Also kommt es zu einem Briefwechsel, in dem Richter und Kappus sich in der heiklen Angelegenheit mit ihren Vorgesetzten abstimmen. Resultat: Richter hält es für seine "Pflicht", Poncet weiterhin angesichts der "Temperatursteigerung in der nationalen Stimmung der Zöglingschaft" abzuraten. Kappus dagegen befürwortet einen Eintritt als Externer; man habe auch "andere Ausländer unter unseren Schülern und auch Söhne ausländischer Diplomaten. Es haben sich daraus bis jetzt nie irgendwelche Misshelligkeiten ergeben." Die Behörden, bis hinauf zum "Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung" schließen sich jedoch den "Bedenken des Kurators" an. Ministerialrat Löpelmann macht auf einem entsprechenden Schreiben im "Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz" folgenden handschriftlichen und vielsagenden Aktenvermerk: "...Mit Recht lehnt das Arndt-Gymnasium die Aufnahme in bewundernswert höflicher Form ab. Man kann deutschen Jungen nicht zumuten, mit dem französ. Judenbengel [durchgestrichen zuvor: Judenjungen] (sic!) auch noch im Internat zusammenzuwohnen." "Der Antragsteller ist auf die ganze Sache nicht mehr zurückgekommen."
    Mehr zum Thema Juden und "Halbjuden" am AGD? > auf die folgenden Links klicken! > "Martin-Eduard-von-Simson-Stiftung"; > Antisemitismus und sog.e "Halbjuden".

 

1940
Plakat einer NS-Propaganda-Ausstellung (von www.dhm.de). Davor: Shylock in einer Inszenierung von "The Merchant of Venice". Mangels eines Bildes von der AGD-Inszenierung wurde eines von der Website des Northcott-Theatre genommen (Link? Auf das Bild klicken!).
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